In der Mitte der Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten
Inklusion an Beruflichen Schulen
„Schön, dass du da bist, wir freuen uns auf dich.“
Mit diesen Worten wurde Isabell vor drei Jahren an der Berufsschule 2 in Rosenheim begrüßt. Isabell ist eine junge Frau mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Der Kollege, welcher diese Worte aussprach, meinte das von ganzem Herzen. Das weiß jeder, der ihn kennt. Könnte man in ihn hineinschauen, fände man dort auch Gedanken wie „hoffentlich mache ich alles richtig“ und Gefühle von Verunsicherung. Und das wäre bei jedem so, der ernsthaft die Verantwortung für die Beschulung einer Auszubildenden mit dieser Diagnose übernimmt.
Von dieser Begegnung, den Hürden sowie Erfolgen erzählt der Artikel und skizziert durch die Darstellung der jeweiligen Perspektiven von Isabell, ihrer Mutter (Frau S.) und der Schule die „Schwierigkeiten und die daraus entspringenden Möglichkeiten“. Das ist nämlich das Grundverständnis von Inklusion an der BS2 Rosenheim.
Nach einer bisher „ernüchternden Schullaufbahn“ an anderen Regelschulen, so die Mutter von Isabell, wurde sie im Fachbereich Einzelhandel nicht nur herzlich aufgenommen, sondern im Unterricht individuell und auf ihre Bedürfnisse hin gefördert. Denn inklusiver Unterricht ist die Aufgabe aller Schulen (so heißt es auch im BayEUG). Dennoch gelingt es noch nicht allen Regelschulen sich Schüler*innen mit einer Behinderung gegenüber zu öffnen, wie der Aussage von Isabells Mutter zu entnehmen ist. Anders ist es an zwei Berufsschulen im Landkreis Rosenheim, der Berufsschule Bad Aibling und der BS 2 Rosenheim. Zusammen erhielten sie im letzten Jahr das Schulprofil Inklusion.
Frau S. erzählt, was an der Berufsschule 2 konkret überlegt und umgesetzt wurde, damit Isabell am Unterricht gut teilnehmen kann: „Die Klassengröße wurde auf das Wohl von Isabell abgestimmt und auch bei der Einteilung in eine Klasse wurde im Blick behalten, dass diese gut zu ihr passt. Bei der Unterrichtsgestaltung wurde immer darauf geachtet, dass es ruhig und entspannt ist. Der bloße Blickkontakt von den Lehrkräften zu meiner Tochter und deren Schulbegleitung war hierfür ein wichtiger Hinweis.“
Die Schülerin selbst sieht sich damit aber keineswegs in einer Sonderstellung. Die Schulbegleitung soll nach ihrem eigenen Verständnis lediglich dazu dienen, dass sie wie ihre Mitschüler*innen gleichermaßen dem Lernstoff folgen kann. Die Mutter der Schülerin beobachtete hierzu: Meine Tochter wurde nie in den Mittelpunkt gestellt. Alle Schüler*innen erhielten das gleiche Maß an „Rücksicht und Einfühlungs-vermögen“ von Seiten der Lehrkräfte . „Alle Auszubildenden bekamen die gleiche Behandlung.“ Genau das zeichnet eine inklusive Schule aus – Jeder Schüler/in wird mit all seinen/ihren Stärken und Schwächen angenommen und entsprechend gefördert. Denn jede/r Auszubildende hat besondere Bedürfnisse. Schüler*innen mit einer Beeinträchtigung haben wie andere Schüler*innen das Recht, eine Regelschule zu besuchen und, wie im Fall von Isabell, auch an einer berufsbildenden Schule eine (reguläre) Ausbildung zu absolvieren.
Dafür muss sich die Schule auf den Förderbedarf der Schüler*innen einstellen und die Schüler*innen mit Inklusionsbedarf auf die Strukturen einer Regelschule. Es entsteht ein Zusammenspiel von Anforderungen, die der/die Auszubildende mitbringt und den Fördermöglichkeiten, die die Berufsschule anbieten kann. Dies ist ein Prozess, der fein aufeinander abgestimmt werden muss. Der nach unserer Auffassung jedoch wichtigste Grundstein für eine stabile Zusammenarbeit zwischen den jungen Menschen mit besonderen Bedürfnissen und den Lehrer*innen ist, die Bereitschaft für einen offenen und ehrlich gemeinten Austausch. Auch Isabell hat dies so wahrgenommen.
„Was ich als sehr positiv empfunden habe, ist, dass alle Lehrer sehr gerne bereit waren, sich auf das Thema Autismus einzulassen und auch eine Schulung angenommen haben. (…)“. Der Schultag wird so geregelt, dass die junge Frau immer im selben Klassenzimmer bleiben kann, sie stets die gleichen Lehrkräfte unterrichten und die Stunden nicht abrupt enden, sondern von der darauffolgenden Lehrkraft weitergeführt werden. Dies ist für Isabell sehr von Vorteil, da sie dadurch nicht in die Drucksituation gerät, noch schnell etwas fertigstellen zu müssen. „Es entsteht dadurch die Möglichkeit, angefangene Arbeitsprozesse bei der nächsten Lehrkraft zu Ende zu bringen“, erkennt die Schülerin rückblickend. Dass dies einen hohen organisatorischen Aufwand bedeutet, ist Isabell und ihrer Mutter bewusst.
Nachdem Regelschulen tatsächlich noch zu wenig zeitliche wie auch personelle Ressourcen für eine erfolgreiche Beschulung von Förderschüler*innen zur Verfügung haben, hat sich die Berufsschule 2 in Rosenheim zusammen mit dem Sonderpädagogischen Förderzentrum und der Staatlichen Berufsschule in Bad Aibling im vergangenen Jahr für das Inklusionsprofil beworben und dieses auch erhalten. Dabei streben die Schulen gleich ein umfassenderes Ziel an, nämlich Inklusion längerfristig auf den gesamten Landkreis auszuweiten. Durch die zunehmende Vernetzung und Kooperation regionaler Schulen soll nach und nach der inklusive Landkreis Rosenheim aufgebaut werden.
Um Menschen mit einer Beeinträchtigung an einer Regelschule kompetent zu unterstützen, braucht es im ersten Schritt die Offenheit der Schulleitung sowie der Lehrkräfte. Eine inklusive Schulentwicklung ist nur dann möglich, wenn die gesamte Schulgemeinschaft eine solche befürwortet und darüber hinaus auch freiwillig mitgestaltet.
Im weiteren Schritt ist die fachliche Unterstützung durch Sonderpädagog*innen unabdingbar. Aus diesem Grund pflegen die Berufsschulen in Rosenheim und in Bad Aibling eine enge Kooperation mit der Rupert-Egenberger-Schule, dem Sonderpädagogischen Förderzentrum in Bad Aibling (SFZ). Durch den regelmäßigen Wissens- und Erfahrungsaustausch werden Regelschullehrkräfte darin bestärkt, Schüler*innen mit Förderbedarf in ihrem Unterricht zu unterstützen.
Als erste Ansprechperson und erstes Bindeglied spielt das multiprofessionelle Team der jeweiligen Schule eine zentrale Rolle. Dieses setzt sich aus verschiedenen Fachkräften wie Schulpsycholog*innen, Sozialpädagog*innen, Lehrkräften und ggf. auch Sonderpädagog*innen zusammen. Sie stellen somit die Verbindung zwischen Lehrkräften des Förderzentrums, anderen externen Partner*innen wie zum Beispiel den jeweiligen Ausbildungsabteilungen der Kammern und den hausinternen Lehrkräften dar.
Darüber hinaus dienen sie auch als sogenanntes „Inklusionsteam“ als Multiplikator*innen für eine inklusive Beschulung und implementieren erworbenes Knowhow im Kollegium.
Inklusion erfordert phasenweise einen erhöhten Zeitaufwand. Dafür bekommen Schulen mit dem Profil Inklusion eine gewisse Anzahl an MSD- und Budgetstunden. „Die zusätzlichen Budgetstunden, in denen zwei Lehrer in der Klasse sein können, wurden sehr gut genutzt,“ schwärmt Isabell. Die Klasse ist in der Zeit „noch ruhiger und konzentrierter“, was Isabell als besonders positiv empfinden hat.
Die Berufsschule Bad Aibling und die Berufsschule 2 Rosenheim haben Inklusion in ihrem Qualitätsmanagement fest verankert und sich zum Ziel gesetzt, ihre Lehrkräfte über die nächsten Schuljahre durch bedarfsorientierte Fortbildungsangebote zu sensibilisieren, wie auch zu qualifizieren. Bereits in den ersten Monaten mit dem Profil Inklusion haben die beiden Berufsschulen schulinterne Fortbildungen durch ihre Kooperation mit dem SFZ durchgeführt, die den Grundstein für ein gemeinsames, inklusives Miteinander geschaffen haben. Denn nicht nur für die Schüler*innen mit Inklusionsbedarf ist die Beziehung zu den Lehrer*innen besonders wichtig. Auch die an der Ausbildung beteiligten Personen (Betriebe, Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen uvm.) benötigen einen Begegnungsraum, um schließlich Stabilität und Sicherheit an junge Menschen wie Isabell weitergeben zu können.
Und so schließt Isabell im Juli 2022 als eine der Jahrgangsbesten ihren Ausbildungsberuf zur Einzelhandelskauffrau ab. Ein großer Erfolg für alle an diesem Weg Beteiligten. Isabell hat nicht nur fachliches Wissen erworben und sich für die Teilhabe in der Berufswelt qualifiziert, sondern eine Erfahrung gemacht, die wir alle für ein gesundes und glückliches Leben benötigen: So gesehen, angenommen und gefördert zu werden, wie sie ist. Und auch die Kolleg*innen der Berufsschule 2 Rosenheim sind durch diese Erfahrung gewachsen. Denn aus dem zunächst verständlichen Gefühl der Unsicherheit ist die Gewissheit entstanden, dass man gemeinsam wachsen kann und damit die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben nicht nur eine politische Vorstellung, sondern eine echte Bereicherung für alle ist.